Dr. Rainer Beßling

Gesicht und Antlitz, Körper und Leib. Zu den Bildnissen der Malerin Emese Kazár


In: Rainer Beßling, Bildersprachen. Gemeinnützige Stiftung Kreissparkasse Syke / Syker Vorwerk - Zentrum für zeitgenössische Kunst (Hg.) Open Space Edition, 2018



Emese Kazárs Bildnisse erwachsen aus malerischem Geschehen. Im künstlerischen Prozess bilden sich körperhafte Figuren aus. Es vollzieht sich eine Aktivierung von tief im Inneren der Künstlerin eingelagerten  Imaginationen und Gestalterfahrungen. Farbe und Licht werden in die Figurationen eingegliedert. Farbe gewinnt Leiblichkeit, der Körper bietet sich als Energieraum des Kolorits dar. Bildnis und Porträt erweisen sich ebenso als basale Elemente im Motivrepertoire und Themenkanon der Künstlerin wie auch als Projektionsflächen für die bildnerische Befragung von Sehen und Identität.

Kazárs Bilder verhandeln auf elementare Weise die Frage, was ein Porträt, was ein Bildnis ist. Sie thematisieren Formen intuitiver Wahrnehmung und gerichteten Erkennens, Spielarten des Sehens von Gesicht und des Erblickens von Antlitz in einem zwischenmenschlichen Austausch. Das Gesicht ist durch Präsenz, Unmittelbarkeit, durch direkte Ausdruckskraft und Ansprache gekennzeichnet. Es kann als eine der zentralen Kategorien und Schnittstellen menschlicher Kommunikation und Selbstverständigung gelten. Im Gesicht versichert sich der Mensch der Beachtung und Achtung anderer, buchstäblich des Respekts, des Zurückschauens und der Berücksichtigung.

Die visuelle Gesellschaft der Gegenwart produziert eine Überfülle an Bildern als Visitenausweise und Sichtangebote und fördert dadurch tendenziell eine Übersättigung, Verallgemeinerung und Verflachung bildlichen und bildnishaften Austausches. So führt die faziale Fülle zu einer Abschleifung und Nivellierung der in Bildnissen zum Vorschein kommenden Individualität und Identität. Vielleicht muss das Gesicht im Porträt zu einem Ausdrucksnullpunkt zurückgeführt werden, um wieder wahrgenommen werden zu können. Vielleicht kann sich das Gesicht damit wieder Glaubwürdigkeit, Wahrhaftigkeit, Wahrheit zurückerobern. Dem scheinbar Vertrauten und darin Benutzten bis Verbrauchten könnte so eine neue Sichtbarkeit zurückgegeben werden. 


Kazárs Bilder führen das Bildnis zurück auf Anfang und Ursprung. Sie stellen es in einen unbestimmten, offenen, dunklen Raum. Körper und Raum begegnen sich in einem stofflich erscheinenden Sfumato. Die gesamte Szenerie steht in einem diffusen Hell-Dunkel. Die Bildnisse verharren in ihrer allmählichen Erscheinung aus dem Dunkel, geben sich als auftauchende Phänomene an einer ungeklärten Oberfläche zu erkennen. Sie sind als vielschichtige visuelle Ereignisse, als Gestalten und Verhalten im Vollzug formuliert und gerinnen nicht vorschnell zu Ergebnissen eindimensional gerichteter Formungen und Blicke. Sie stehen in einem Kontinuum des Erscheinens und Gesehenwerdens, fordern und zeigen in ihrer Raum nehmenden Ansichtigkeit eine visuelle Aufnahme und sperren sich doch gegen oberflächliche Interpretation. Sie stemmen sich gegen die bloße Rückversicherung des Betrachters im Zuge einer kategorialen Abbuchung in Erfahrung und Gedächtnis. Wittgensteins Diktum „Denke nicht, schau“ kommt bei diesem Seherlebnis in den Sinn. Die Bildnisse verweigern die Scharfstellung und entziehen sich der Rolle einer bloßen Orientierungsgröße in der Begegnung mit dem Anderen. Die Figuren verbleiben im Ungewissen, bilden keine individuelle Persönlichkeit aus, zeigen sich aber auch nicht als Typus oder Charakter. Kazárs Figurenbilder bieten sich nicht als Spiegelung eines Innenlebens an der sichtbaren physiognomischen Oberfläche, nicht als Protokolle innerer Regungen an. Sie bilden vielmehr eine abwesende Innerlichkeit und präsente Entrücktheit aus. Sie thematisieren mit dem erkennbaren Verweis auf ihre Außenhaut vorrangig ein prekäres, problematisches Verhältnis zwischen innen und außen. Eine unsichere Ambivalenz zwischen externer Bezugnahme, Partizipation und handelnder Explikation auf der einen und sicherem Selbstverhältnis als bewusster Alleinstellung auf der anderen Seite wird zur Anschauung gebracht.


Der Mensch hat einen Körper und er ist Leib. Im Haben steckt das Besitzen, Beherrschen. Der Leib bildet das nicht vollständig beherrschbare Fundament der Existenz, ein Apriori, auf dem Verstand und Sinne, Geist und Seele gleichermaßen fußen. Der Körper ist sichtbare Gestalt, den Leib kennzeichnen Impulse und Resonanzen, ein vitaler, nicht still zu stellender, subkutaner Strom. Die Leibhaftigkeit der menschlichen Existenz wird in Kazárs Werken in einer geradezu greifbaren und sich zugleich verflüchtigenden Figuration sinnfällig. Taktile Elemente der Inaugenscheinnahme sind aufgerufen. Die Übergänge von Stofflichkeit und Immaterialität, von Trübung und Transparenz sind fließend. Die Grenze zwischen Körper und Raum, die im Bild gewöhnlich durch eine Konturlinie markiert wird, ist in den Bildnissen der Künstlerin aufgehoben beziehungsweise durchlässig gemacht. Linie gibt es in der Natur nicht. Figuren schaffen, heißt malerisch mittels Flächen Grenzen setzen, Identitäten bilden. Kazárs Figuren sind in Passagen begriffen, im physischen wie im mentalen Austausch des Individuums zwischen umräumender Welt und Eigenbehauptung. Die Haut wird somit als Schwelle zwischen Körper und Raum, als Membran in einer Osmose zwischen Subjekt und Welt formuliert. Die Haut ist als größtes Organ und Sinnennetz der am meisten herausgeforderte und gefährdete Teil des Körpers. In die Haut prägen sich die Spuren des Lebens ein. Die Körperhaut berührt die Bildraumtextur, die nicht nur als Hülle, sondern gewissermaßen als das Fleisch der Welt auftritt. Mit der Haut ist der Mensch in ein taktiles Verhältnis zur Welt gesetzt, in ein Spüren, das sich als eine Spur niederschlägt, die er in sein leibliches Gedächtnis inkorporiert. Kazárs Bilder markieren die Körperhülle und ihren heiklen Halt. 


Das Gesicht ist nackt, offen, ungeschützt, arm. Deshalb versucht der Mensch es durch Posen und Masken einzukleiden und zu verkleiden. Sind, werden wir unserer Gesichter Herr? Wahren wir unser Gesicht oder verlieren wir es? Selbstausdruck und Kontrolle des Ausdrucks stehen sich gegenüber. Die Balance zwischen „an sich halten“ und „sich entäußern“, zwischen Inklusion und Exklusion hat viel Spiel und erscheint heikel. Das Gesicht ist der gesellschaftliche Teil von uns, der Körper oder besser der Leib ist Natur. In einem programmatisch wirkenden Porträt Kazárs ist der pointiert aufrecht positionierte Kopf mit einem schimmernden Eigenlicht gegeben, die Augen sind in Schatten getaucht, der Körper ist abgedunkelt. Die lichthafte, diaphane Sphäre ließe sich als Ort immateriellen Bewusstseins verstehen, während der Leibraum den erdverhafteten materiellen Körperkosmos benennt.


Es findet in Kazárs Bildnissen keine konventionelle Modellierung durch Licht und Schatten statt, sondern eine Modulation durch die Empfindung von Hell und Dunkel, also von Kontrasten und Polaritäten in der sinnlichen Wahrnehmung. Im Übergang von Hell und Dunkel offenbart sich das Verhältnis von Verhüllen und Entbergen. Der Übergang, die Grenzzone zwischen Präsenz und Abwesenheit, ist abgesteckt. 

Die Abwesenheit des ins Bild Gesetzten als Voraussetzung für die Gegenwärtigkeit des Bildes ist dem Bildnis eingeschrieben. Das Verschwinden und Vergehen nimmt selbst Präsenz ein. Die Figuren tauchen wie aus einem Raum des Unbestimmten, Unbeherrschten, Triebhaften, Animalischen auf. Die Nachtseite, die andere, untergründige Geschichte der Zivilisation und des Aufklärungsprojekts, die Geschichte des Körpers sind damit aufgerufen. Der Schatten verzeichnet den Umraum als Totenreich, die Furcht vor dem Schatten ist archetypisch. Zugleich aber verspricht der Schatten Erdung. Der Verlust des Schattens und damit die Einbuße von Identität als Konsequenz aus dem Verkauf der „Seele“ an die Mächte der Finsternis, die den Schatten eingemeinden, ist eine Basiserzählung der Menschheit.

Kazárs Dämmerungsfiguren thematisieren das körperliche Leben von dessen Endpunkt aus. Daraus resultiert eine mehr spür- als sichtbare Perspektive der Demut. Das angehaltene Bild als Momentaufnahme aus einem Lebenskontinuum wird durch die Übergänge zum Umraum imaginativ kompositorisch verflüssigt. Licht fällt nicht von außen auf die Körper, vielmehr schimmern die Körper aus dem Inneren. Das tendenzielle Verlöschen des Lichts als Vergänglichkeitsmetapher ist mit eingeblendet. In Kazárs Bildnissen sind die Augen, ist der Blick ausgeblendet oder in einen dunklen Raum getaucht. Das Spiegelverhältnis zwischen Betrachter- und Bildkörper ist aufgekündigt. Das Band von Angesicht zu Angesicht ist zerschnitten, neben Mimik ist auch Gestik eingefroren. In den Bildern erfüllt sich nicht das Versprechen einer gelingenden Begegnung zwischen Ich und Du, in der das Ansehen und Angesehenwerden ein Gesicht und damit eine Identität konstituieren. Dass Selbstbewusstsein sich am Selbstbild orientiert und zu diesem und für dieses am Blick des anderen auf den eigenen Körper, zeigt sich als problematisch. Da die Bildnisse sich nicht dem Blick fügen, stemmen sie sich gegen die Inbesitznahme durch den Betrachter. In der Verweigerung des Blicks ist der Betrachter auf sich selbst zurückgeworfen. Das Wie seines Sehens wird fokussiert. Sehen wird dabei erkennbar als etwas, das über den Blick hinaus den gesamten Körperleib umschließt und sich mittels des Anderen, Unvertrauten, Fremden konstituiert. Dabei wird dem Blickenden kein sicherer Standort, keine gesicherte Perspektive gewährt. Auch der Raum des Betrachters löst sich auf, vermischt sich mit dem Bildraum. Auch die verborgene Alterität des eigenen Selbst gerät mit in den Fokus. In der flüssig moderierten Fixierung des vergänglichen Augenblicks enthüllen sich der transitorische Charakter des Sehens und Blickens sowie der ambivalente Status einer Verbildlichung von Gegenwärtigkeit. Nicht nur der Augenblick wird festgehalten, vielmehr wird Zeit selbst präsent, als Kontinuum von Austausch und Verwandlung, von Werden und Vergehen, Erscheinung und Auflösung. Erst der Blick erweckt das Gesicht zum Leben. Kazár malt in diesem Sinne vorrangig stumme, leblose Gesichter und dennoch strömt aus den Poren der Malhaut als Stellvertreterin der Körperhülle die ganze Präsenz von Existentialität. Erinnert der leblose Blick an eine Totenmaske, macht er damit zugleich auf den Schwellencharakter dieses finalen körperlichen Abdrucks aufmerksam, in dem das Verschwinden gewesenen Lebens in eine dauerhafte Form und damit lange Gegenwärtigkeit gegossen ist. 


In einem Bild setzt Kazár einen Lichtpunkt in ein Auge und belebt damit den Blick als Präsenzausweis eines gerichteten, gebündelten, ausgreifenden und zugreifenden Schauens, in dem der einzelne sich in seinem Verhalten und Verlangen zeigt, in dem er sich in ein Verhältnis von Innen und Außen setzt. Der Blick erscheint als glänzender, leuchtender, aufblitzender, als Bündelung in einem Strahl, in dem sich die unablässig rege Tätigkeit des Auges zu rasch wechselnden Ereignissen verhält. In einem anderen Figurenbild erscheint der Körper in einem maskenhaften Schema, das zwischen tierhaftem und menschenhaften Schädel oszilliert. Die Augen als Ort, an dem sich Subjektivität herausbildet, wirken wie Durchbrüche einer animalischen oder dämonischen Kraft. Hier wird offenkundig, dass ein Maskenschema immer auf etwas Verborgenes und einen Verborgenen verweist, dass die besondere Lebendigkeit der Maske in der Vergegenwärtigung und Präsenz von Untergründigkeit besteht.


Die Bildnisse Kazárs verweisen auf Unvertrautheit in Begegnungen zwischen Menschen, zeigen die Fremdheit des Anderen, fügen sich nicht in das symbolische Verhältnis, in das der Betrachter angesichts des Bildes tritt. Kazárs Bildnisse, die Geschlechtsattribute ein- und ausblenden, markieren und abstrahieren, lassen sich auch als Widerstand gegen überlieferte malerische Behauptungen einer Verfügbarkeit des weiblichen Körpers lesen. Das biblische „Erkennen“ der Frau nicht in deren erotischen Reizen, sondern als deren potentielle Inbesitznahme kann als ein Subtext der Blickverweigerung und Verweisung des Betrachters auf seine Imaginationsunkultur verstanden werden. Horkheimer/Adorno erweitern in ihrer „Dialektik der Aufklärung“ die Ermächtigungsgeste des männlichen Blicks auf das Problemfeld einer allgemeinen Verdinglichung des Körpers: „Der Körper wird als Unterlegenes, Versklavtes noch einmal verhöhnt und gestoßen und zugleich als das Verbotene, Verdinglichte, Entfremdete begehrt. Erst Kultur kennt den Körper als Ding, das man besitzen kann, erst in ihr hat er sich vom Geist, dem Inbegriff der Macht und des Kommandos, als der Gegenstand, das tote Ding, ,corpus‘ unterschieden.“ Fällt der Mensch in der Begegnung mit dem anderen in den Modus des Blicks, also einer gerichteten, interessegeleiteten Betrachtung, besetzt er den anderen mit seinem Begehren und seinem Machtanspruch. Auf Augenhöhe mit dem anderen befindet er sich nur, wenn er dem anderen den Vorrang gibt, wenn er dessen Ungeschütztheit und Daseinsnacktheit als Aufruf seiner moralischen Integrität, als Herausforderung seiner aufnehmenden, beschützenden und bewahrenden Kräfte annimmt. So sind das Kenntlichmachen und die Wahrnehmung des Gesichtes als Antlitz gerade in dessen Ästhetisierung und damit Befreiung aus einer soziopathischen Abnutzung auch ein ethisches Unternehmen in dem von Kollateralschäden nicht armen Zivilisationsprojekt.